Moin Gunnar,
wie immer vielen Dank für die fachliche Aufarbeitung der Zahlen.
Was heisst das?
Nimmt man die Zahlen aus dem 1. HJ 2021 (als alles noch halbwegs normal war), so wurden über Belarus ca. 42 GW importiert, über die Ukraine ca. 36 GW und über Nordstream 1 ca. 76 GW, zusammen ca. 154 GW. (Das hat nicht gereicht um die Speicher bei uns auf normalen Stand zu füllen, also muss der mittelfristige Bedarf eher höher gewesen sein.) Aber nimmt man nur diese 154 GW, so sind aktuell ca. 36 GW direkt durch die Kriegshandlungen gefährdet und im Rahmen möglicher Sanktionen beider Seiten natürlich alles.
Weiterhin gibt es in Europa LNG-Terminals zur Anlandung und Vergasung von Flüssigerdgas (1 Mt LNG = ~1,3 Mrd Nm3 Gas). Die Maximalkapazität beträgt etwa 230 GW, wobei eine maximale Auslastung von 80%, d.h. ca 180 GW, in Bezug auf die Schiffslogistik auf den Anlegeplätzen ein realistischer Wert zu sein scheint. Bis 2018 lag die Auslastung bei maximal 30%, seit 2019 bewegt sie sich zwischen 30% - 60%. Zum globalen LNG-Markt fand ich diese Übersicht der LNG-Importeursvereinigung hilfreich.
Heißt also: Maximale realistisch erreichbare Kapazität 230*0,8= 184 GW. Tatsächliche Auslastung zu normalen Zeiten im Mittel 230*0,45= 104 GW. Möglich wäre demnach kurzfristig (vorausgesetzt man findet Lieferanten) eine Steigerung um ca. 80 GW. Damit könnte rein rechnerisch eine kriegsbedingte Schließung oder Zerstörung der ukrainischen Leitungen durch LNG-Lieferungen ausgeglichen werden. (Dabei sollte aber auch bedacht werden, dass u.U. während des Krieges und danach womöglich sogar eine Versorgung der noch freien ukrainischen Gebiete mit Erdgas aus Europa erfolgen müsste.) Käme es dagegen (egal warum) zu einer vollständigen Einstellung der Gaslieferungen aus Russland, so entsteht kurzfristig eine Versorgungslücke in Höhe von mindestens (154-80=) 74 GW.
Und da stellt sich die Frage, was machen wir dann.
LNG-Terminals ausbauen? Wenn wir jetzt richtig ranklotzen (und dabei vielleicht sogar auf die eine oder andere Eidechsen-Umsiedlung verzichten) schaffen wir Brunsbüttel womöglich noch dieses Jahr (10 GW), Stade bis 2026 (15 GW) und vielleicht sogar Wilhelmshaven auch bis 2026 (15 GW). Ab er erstmal bleibt ab 2023 eine Lücke von mindestens (74-10=) 64 GW. Ob andere EU-Staaten auch Terminals ausbauen weiß ich nicht.
Erneuerbare Energien ausbauen? Selbstverständlich. "Erneuerbare Energien sind Freiheits-Energien", wie gestern jemand (von dem ich das früher nicht erwartet hätte) so treffend gesagt hat. Wir müssen die Ausbauziele und insbesondere die Ausbaugeschwindigkeit verdoppeln oder auch verdreifachen. Aber das dauert, selbst wenn wir auch hier auf (größtenteils eingebildete) Themen wie Rotmilan, Infraschall oder Landschafts-"Verspargelung" keinerlei Rücksicht mehr nehmen. Natürlich könnten wir hier weiter sein, und wir wissen auch wer daran schuld ist dass wir noch nicht weiter sind. Nur nützt diese Erkenntnis aktuell überhaupt nichts. Bis wir (neben Kohle und Atom) auch das russische Erdgas in der Stromerzeugung direkt durch Wind-und PV-Energie oder durch grünen Wasserstoff (ggf. auch aus Marokko, Australien oder Namibia) ersetzt haben, und bis der Wärmebedarf durch Sanierung auf ein Viertel gesenkt ist und deshalb durch Solarthermie, Wärmepumpen oder Holz gedeckt werden kann, liegt Putin längst unter der Erde.
Es wird uns also in den kommenden Jahren (bis wir mit den "Freiheits-Energien" soweit sind) nicht viel anderes übrig bleiben, als Erdgas entweder schlicht einzusparen (will heißen: Kurzfristig Heizung runterdrehen und Pullover anziehen, mittelfristig Haus energetisch sanieren) oder durch andere – einstweilen zwangsläufig weder erneuerbare noch nachhaltige – Energieträger zu ersetzen.
Eine Laufzeitverlängerung der Kernkraft wäre aus meiner Sicht theoretisch sinnvoll und unter Klima-Gesichtspunkten auch wünschenswert, würde aber das Problem nicht allein lösen und ist vor allem – jedenfalls wenn man den Aussagen der KKW-Betreiber glauben kann – aus technischen Gründen nicht mehr machbar (oder nur unter Inkaufnahme erheblicher Sicherheitsprobleme). Hier wäre ein Umsteuern vielleicht 2014 (anlässlich Krim und Ostukraine) noch möglich gewesen, aber jetzt ist es anscheinend zu spät.
Meiner Meinung nach wird es sich deshalb nicht umgehen lassen, bei der Stromerzeugung die Ausstiegsstrategie bei der Kohle zu überarbeiten. Wir sollten hier insbesondere solche Kohlekraftwerke erst mal weiter laufen lassen, die entweder wegen KWK (Fernwärme) einen sehr hohen Gesamtwirkungsgrad aufweisen, oder die wegen ihrer Flexibilität besonders gut zur Abdeckung der Residuallast geeignet sind.
Zu dem bisher – im Rahmen der Ausstiegsstrategie – angedachten Neubau von Gaskraftwerken bin ich der Meinung, dass man die im Bau befindlichen Projekte fertigstellen aber erst mal keine neuen mehr anfangen sollte. Und auch im Wohnbereich muss unter den aktuellen Umständen überprüft werden, ob eine Förderung neuer Gasheizungen noch sinnvoll ist.
Was den Klimaschutz-Aspekt betrifft, sollten wir uns darüber im Klaren sein, dass sowohl beim Fracking-Gas als auch beim russischen Gas wegen der hohen Methan-Emissionen (bei Fracking während der Gewinnung, in Russland durch den Transport) der Klima-Fußabdruck um mindestens ein Drittel höher ist als beispielsweise bei Erdgas aus Norwegen. Und rechnet man wegen der Kipp-Punkte die Klima-Effekte des Methans nicht über 100 Jahre sondern über 25 Jahre, so kommen bei manchen Berechnungen höhere Klimaeffekte heraus als bei Ölheizungen oder guten Kohlekraftwerken.
So weit meine Einschätzung der Situation. Wenn es bessere Ideen gibt, würde es mich freuen sie zu hören.
Gruß, Sailor