Nord Stream 2 - Ukraine-Krise - Energieabhängigkeit

  • Vertragsbruch treibt die Preise...

    Noch sehe ich nicht, dass die Preise in die Höhe schnellen. Der TTF Neutral Gas Price liegt bei 80-90 €/MWh, aber im Dezember hatte er deutlich höhere Spitzen (100 €/MWh = ~28 €/GJ).


    Gruß,

    Gunnar

  • Dutch TTF. Diese Preise mussten wir nie zahlen. Das Russengas war durch langfristige Verträge viel billiger. Scheinen auch unsere Politiker nicht zu wissen.

    Ergas wurde in Deutschland neben der Eigenförderung in Niedersachsen zuerst aus den Niederlanden importiert um damit das Stadtgas zu verdrängen (siehe BGR-Energie-Studie 2021 Abb. 2-1 Erdgasversorgung Deutschlands von 1960 bis 20, Seite 18). Der Mannesmann-Röhren-Deal Anfang der 70er kam erst später und damit die Gasimporte aus der Sovietunion. Die langfristigen Importverträge aus Russland hatten und haben üblicherweise eine Preisgleitklausel mit der Bindung an den Ölpreis (Substitut von Heizöl zu Heizgas).


    Die Niederlande waren auch mit der Erschließung der Nordsee ein Handelsknoten, deswegen ist der TTF auch ein Referenzpreis, der für ganz Europa gilt. Zudem sind die realen Verbindungen zwischen NL und DE (d.h. heute THE) ganz gut, so dass man hier von einer "Kupferplatte" ausgehen kann, die nur geringe Preisunterschiede aufgrund von Transportkapazitätsrestriktionen rechtfertigen kann.


    Die Amerikaner bevorzugen bei ihren LNG-Exporten eine Kopplung an den Henry Hub (+ X für Verflüssigung und Transport). Transport ist fast egal (120-170 t/d bei einem LNG-Tanker, der 140.000-260.000 m3 fasst), wenn das Erdgas mal verflüssigt ist, aber der Verflüssigungsschritt ist sehr kapitalintensiv und hat hohe Betriebskosten. Daher kann man schon von einem globalen LNG-Markt sprechen, der vor allem durch die Nachfrage in Asien getrieben wird. Die LNG-Preise liegen üblicherweise über den europäischen Gaspreisen und die über den Gaspreisen in den USA. Preis in USD/MBTU * 10 / 3 = Preis in USD/MWh.


    Gruß,

    Gunnar

    Ist die Wärme kraftgekoppelt, wird die Energie gedoppelt. (Ulli Brosziewski)

  • Die langfristigen Importverträge aus Russland hatten und haben üblicherweise eine Preisgleitklausel mit der Bindung an den Ölpreis (Substitut von Heizöl zu Heizgas).

    Das zusammen mit der LNG Problematik wird schmerzhafte preisliche Konsequenzen haben. Der Gaspreis ist dem Ölpreis "enteilt".

  • der Verflüssigungsschritt ist sehr kapitalintensiv und hat hohe Betriebskosten.

    Von den Kosten mal abgesehen: Hast Du eine Zahl dazu wie viel Energie das Verflüssigen von Erdgas erfordert, z.B. in Prozent bezogen auf den gesamten Energiegehalt des Gases?

    Viessmann Vitotwin 300-W (1 kWel, 6 kWth) seit 2012

    PV-Anlage 8,45 kWp (65 x Solarworld SW 130poly Ost/Süd/West, SMA 5000 TL und 3000) seit 2010

    Solarthermie Viessmann Vitosol 300 Vakuumröhren 13,8 qm (Vorgänger Flachkollektoren 14 qm 2004-2021, davor 8 qm 1979-2003)

  • Diese beiden englischsprachigen Vorträge haben mir besser gefallen:

    John Mearsheimer: Why is Ukraine the West's Fault?, 2015

    Vladimir Pozner: How the United States Created Vladimir Putin, 2018


    Kernaussage: Eine Tragödie der verpassten Gelegenheiten. Nach dem Zusammenbruch der Sovietunion und des Warschauer Paktes fehlte eine Marschallplan zur ökonomischen Stabilisierung Osteuropas. In den 1990er und auch den frühen 2000er Jahren wäre die Möglichkeit da gewesen, eine europäische Sicherheitsarchitektur aufzubauen, bei der auch der russische Bär ein integrales Plätzchen hat. Putin habe in den ersten Jahren seiner Präsidentschaft 2000-2007 regelmäßig die Hand ausgestreckt und sei auf keinerlei Resonanz gestoßen, sei es mit Kooperationsangeboten auf militärischer wie auf wirtschaftlicher Ebene.


    Die nordeuropäische Tiefebene reicht von Nordfrankreich über BENELUX, DE, PL, UK ins russische Kernland und war in der Vergangenheit schon mehrfach (1941 DE, 1812 FR, 1708 SE, 1610 PL) eine Einflugschneise für fremde Truppen Richtung Moskau. Wegen dieser Erfahrung mit der Geographie (wäre schön wenn ein Gebirgsriegel vorhanden wäre, z.B. sind China und Indien per Himalaya getrennt) hat man in Russland Sicherheitsbedenken, genauso wie während der Kubakrise die USA die Aufstellung von Mittelstreckenraketen im karibischen Vorgarten nicht akzeptiert hat. Damals, 1962, hat man den Kompromiss gefunden, dass die UdSSR die Raketen wieder abzieht und die USA wiederum die einige Jahre zuvor in der Türkei und in Italien installierte Jupiter-Raketen.


    Gruß,

    Gunnar

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  • Der Gaspreis ist dem Ölpreis "enteilt".

    Wenn man der Einschätzung der Teilnehmer am Terminmarkt glaubt, dann wird Erdgas wieder billiger. Für die kommende Sommersaison und auch noch im Winter steht der Terminpreis bei rund 90 €/MWh, aber danach geht es wieder runter.

    2023: 62,57 €/MWh

    2024: 42,29 €/MWh

    2025: 33,04 €/MWh

    2026: 27,39 €/MWh


    2021 war aus verschiedenen Gründen eine Disruption an den Energiemärkten für fossile Brennstoffe (Öl, Gas, Kohle). Aus meiner Sicht war der stärkste Einfluss der Nachfragerückgang und Preiseinbruch im Coronajahr 2020, so dass viele Unternehmen der Öl- und Gasbranche auch viele Regelinvestitionen in die Erhaltung der Kapazitäten erstmal eingestellt haben. Denn nicht nur EE-Investitionen sondern auch solche in die Gasförderung und Gasinfrastruktur brauchen als langfristige Vorhaben stabile Rahmenbedingungen. Das war ja auch die Kritik des Kremls, als im letzten Jahr die Gaspreise raufgingen: dass der Trend, immer mehr auf (Spot)Märkte zu setzen und keine langfristigen Lieferbeziehungen einzugehen es auf Gasförderseite schwer macht, langandauernde Milliardenprojekte zu stemmen, wenn über die Absatzlage und -preise Unklarheit besteht.


    Und schließlich darf man nicht vergessen, dass in Europa selber die Gasförderung rückläufig ist:

    DE: 5 Mrd m3 (23 Gm3 in 1999, Peak)

    NL: 32 Mrd m3 (75-85 Gm3 in 1980-2010)

    UK: 40 Mrd m3 (108 Gm in 2000, Peak)

    NO: 112 Mrd m3 (123 Gm in 2017, Peak)

    Desweiteren gibt es Pipelines aus Algerien nach Spanien und Italien, wobei der Eigenverbrauch dort ansteigt, so dass die Gasförderung (seit etwa 20 Jahren im Plateau) nur begrenzt für die Ausfuhr zur Verfügung steht. 42 Mrd m3 Export (65 Gm in 2005, Peak)


    Zum Vergleich:

    RU: ca 600 Mrd m3 seit 30 Jahren (677 Gm3 in 2019), davon werden gut 250 Gm3 exportiert

    US: ca 500 Mrd m3 bis 2005, danach Fracking Gas Anstieg (960 Gm3 in 2019)

    WO: 4000 Mrd m3, kontinuierlicher Anstieg (Verdopplung ca. 30 Jahre)


    Zum Import gibt es weiterhin die Pipelinetrassen aus Russland

    - Nordstream I (Ostsee) 55 Mrd m3/a = ca 70 GW

    - Jamal (Belarus, Polen) 33 Mrd m3/a = ca 40 GW

    - Transgaz (Ukraine, Slowakei) 120 Mrd m3/a = ca 150 GW


    Weiterhin gibt es in Europa LNG-Terminals zur Anlandung und Vergasung von Flüssigerdgas (1 Mt LNG = ~1,3 Mrd Nm3 Gas). Die Maximalkapazität beträgt etwa 230 GW, wobei eine maximale Auslastung von 80%, d.h. ca 180 GW, in Bezug auf die Schiffslogistik auf den Anlegeplätzen ein realistischer Wert zu sein scheint. Bis 2018 lag die Auslastung bei maximal 30%, seit 2019 bewegt sie sich zwischen 30% - 60%. Zum globalen LNG-Markt fand ich diese Übersicht der LNG-Importeursvereinigung hilfreich.


    Gruß,

    Gunnar

    Ist die Wärme kraftgekoppelt, wird die Energie gedoppelt. (Ulli Brosziewski)

  • Das Problem könnten auch russische Stützpunkte in Europa wie der in Kaliningrad sein, die eine Osterweiterung notwendig gemacht haben.

    [..] Ablenkungsmanöver von innenpolitischen Problemen Russlands [..] siehe Hat Putin GRÜNDE für die INVASION der UKRAINE? - VisualPolitik DE. Wie es um Aufrichtigkeit und den Respekt fremder Territorien von Diktatoren und Scheindemokratoren steht, hat man bei der Krim ja schon gut beobachten können, bei den Tschetschenienkriegen, den Kriegen um Abchasien und Südossetien (Georgienkrieg) oder den Konflikt in Transnistrien.


    Deine Argumentation verstehe ich nicht. Dass russische Stützpunkte in Europa liegen ist völlig normal. Das zu kritisieren ist ein wenig wie zu kritisieren, dass die Engländer sich vor knapp 1000 Jahren in Frankreich breit gemacht haben. Das lag daran, dass denen halb Frankreich gehört hat: die Normannen aus der Normandie - zugereiste Wickinger - hatten die Insel überfallen und dort die Führung übernommen. Daher hatten sie in der frz. Stammlande ein paar Lehen und Erbbeziehungen, bevor sie diese Besitztümer im Hundertjährigen Krieg verloren haben. Noch mal zur geographischen Klarstellung: Europa reicht von der iberischen Halbinsel bis zum Ural (Gebirge / Fluss). Eine unterschiedliche Auslegung der geographischen Grenzen bezieht sich nur darauf, ob man vom Kaspischen Meer zum Schwarzen Meer durch die Manytschniederung zwischen beiden Gewässen geht oder über den Kaukasus etwas weiter südlich.


    Größte Stadt Europas (Einwohner): Moskau

    Längster Fluß Europas: Wolga (siehe Wolgograd = Stalingrad)

    Höchster Wolkenkratzer Europas: Lakhta Center, St. Petersburg

    Höchstes Bauwerk Europas: Ostankino-Turm, Moskau

    Tiefstes Loch Europas: Kola-Bohrung

    Größte Hungersnot in Europa: Holodomor (Anfang 1930er in UA und Umgebung)


    Knapp 80% der Russen leben im europäischen Teil des Landes westlich vom Ural. Es ist recht eindeutig festzustellen, dass Russland zu Europa gehört, geographisch wie auch kulturell (slawische Sprachfamilie), genauso wie auch das Vereinigte Königreich zu Europa gehört, auch wenn sie aus der EU ausgetreten sind.


    Kaliningrad ist eine russische Exklave zwischen Polen und Litauen. Zwischen Erstem und Zweitem Weltkriegs war es eine Deutsche Exklave zwischen Polen und Litauen. Shit happens, erst recht wenn man einen Krieg verliert und noch viel rechter, wenn man einen anfängt. Westberlin war jahrelang Exklave in der DDR. Üblicherweise besteht die Gefahr, dass eine Exklave im Fall der Fälle von der Umgebung geschluckt wird, nicht umgekehrt. So ähnlich ist es doch mit der Exklave Gibraltar - muss sich Spanien vor der Atommacht Großbritannien fürchten, seitdem UK aus der EU ausgestiegen ist, oder wird demnächst eine Spanische Überfalltruppe das Gebiet nach 300 Jahren im Handstreich wieder zurücknehmen? Bzgl. Kaliningrad bin ich überzeugt, dass Deutschland keine Ansprüche auf Rückübertragung stellt. Sollten sich Polen und Litauen die Exklave gemeinsam einverleiben, so wie es 1939 Deutschland und die Sovietunion gemäß Molotow-Ribbentrop-Pakt mit Polen gemacht haben?


    Zum "Respekt fremder Territorien" fallen mir folgende Beispiele von Disrespekt ein:

    - Vietnam 1964

    - Granada 1983

    - Kosovo 1999

    - Irak 2003

    Hier fehlte ein UN-Mandat wie es z.B. beim ersten Irakkrieg 1991 erteilt wurde. Ohne solch ein Mandat gilt nach wie vor "Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt." Artikel 2.4 der UN-Charta. Somit ist Krieg verboten, auch wenn - wie wir alle wissen - alle Tiere gleich sind, aber einige sind gleicher, insbesondere wenn sie im Sicherheitsrat sitzen.


    Zur Krim habe ich in dem Video von VisualPolitik den Hinweis vermisst, dass die Krim bis 1954 russisch war und von Nikita Chruschtschow der Ukraine zugeordnet wurde. Maersheimer zeigt einige Folien zur ethnischen Aufteilung in der Ukraine und zur politischen Ausrichtung (Wahlergebnisse). Die Krim ist noch viel stärker als die Ostukraine, wo die Separatisten herrschen (quasi ein Bürgerkrieg, der vermutlich von Russland unterstützt wurde, vgl. auch mit der Rolle Frankreichs im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg), von ethnischen Russen bewohnt, eben weil diese Halbinsel seit dem späten 18. Jahrhundert zu Russland gehörte. Und die Benutzung des Wortes "Annexion" hat einen ganz besonderen Zweck: dies wäre ein Anlass für eine rechtmäßige Militäraktion, um diesen Vorgang umzukehren. Bei einer Sezession ist dies nicht der Fall, wie bspw. Bayern erklärt sich als Freistaat unabhängig und macht damit vom Selbstbestimmungsrecht der Völker gebrauch. Es wurde auf der Krim im Übrigen ein Referendum durchgeführt. Selbst wenn man dieses Referendum unter internationaler Beobachtung wiederholen würde, wäre zu erwarten, dass dasselbe rauskommt, eben weil die Krimbewohner Russland zugetan sind.


    Im Georgienkrieg 8.-12. August 2008, der sich im Wesentlichen um die Szessionsgebiete Abchasien und Südossetien drehte, kann man einen Vergleich zum Kosovokrieg sehen. In beiden Fällen gab es bürgerkriegsähnliche Autonomiebestrebungen und das nicht erst seit kurzem. Das Gebiet des Kosovo wurde aus dem Staatsgefüge von Serbien herausoperiert. Der Kosovo-Krieg war für Deutschland der Sündenfall: ohne UN-Mandat war die Beteiligung ein Kriegsverbrechen. Beide Konflikte liefen nicht ganz nach dem UN-Lehrbuch ab, aber bei westlichen Mächten die Augen zuzudrücken und bei Russland entsetzt aufzuschreien wenn geopolitische Interessen vertreten werden, halte ich für verlogen und wirklichkeitsfremd. Eine kleine Pikanterie gibt es im Zusammenhang mit dem Nato-Gipfel im April 2008 in Bukarest. Georgien und die Ukraine hatten sich um das Mitgliedschaftseinführungsprogramm MAP beworben, waren aber erstmal abgeblitzt worden. Nichst desto weniger stellte das Abschlusskommunique folgendes in Aussicht: "We agreed today that these countries will become members of NATO." (ohne genaues Datum). Nichts desto weniger war damit in Moskau die rote Linie überschritten. Und es gibt die Vermutung, dass der Georgienkrieg - der mit einer Initiative Georgiens in den abtrünnigen Gebiet Südossetiens begann - dadurch begünstigt wurde, dass die Georgische Regierung eine Nato-Unterstützung annahm und sich deswegen stärker aus dem Fenster lehnte.


    Das wichtigste für die Ukraine ist erstmal ein Waffenstillstand und kompromissbereite Köpfe als Verhandlungsführer, um den Karren wieder aus dem Dreck zu fahren. De-eskalation scheint mir zielführender zu sein, als eine Gewaltspirale über alle Dimensionen.


    Gruß,

    Gunnar

    Ist die Wärme kraftgekoppelt, wird die Energie gedoppelt. (Ulli Brosziewski)

  • bei westlichen Mächten die Augen zuzudrücken und bei Russland entsetzt aufzuschreien wenn geopolitische Interessen vertreten werden, halte ich für verlogen und wirklichkeitsfremd.

    Ersteres ist verlogen, Zweiteres nicht. Aktuell haben wir es eben leider mit Zweiterem zu tun. Sollen wir denn jetzt bei jeder Äußerung des Entsetzens über das Vorgehen Putins in der Ukraine in Klammern hinzufügen "aber übrigens, Grenada 1983 war auch nicht in Ordnung"?

    Zum "Respekt fremder Territorien" fallen mir folgende Beispiele von Disrespekt ein:

    Man sollte beim Aufstellen von Listen unrechtmäßiger Einmärsche (bei aller Berechtigung völkerrechtlicher Einwände) auch den jeweiligen Hintergrund berücksichtigen.

    • Zu Vietnam empfehle ich die Lektüre von Barbara Tuchman's "March of Folly". In dem Konflikt gab es spätestens ab etwa 1960 keine "Guten" mehr, sondern bis zum Schluss nur "Böse" und "Narren". Und das Völkerrecht haben dort jedenfalls beide Seiten gebrochen.
    • Grenada, OK. Vom Prinzip her vielleicht vergleichbar. Von der Bedeutung her (und vor allem was die Zahl der Opfer und die Folgen für die Zivilbevölkerung betrifft) nicht. Übrigens gab es auf Grenada seinerzeit kubanisches Militär, das auch gegen die US-Invasoren mitgekämpft hat. In der Ukraine gibt es m.W. derzeit keine NATO-Soldaten, und schon gar keine die dort mitkämpfen.
    • Was den Kosovo betrifft, sehe ich einen Unterschied zwischen der tatsächlichen damals sehr realen Drohung eines Völkermordes (von Milosevic so angekündigt und z.B. in Srebrenica oder Racak auch von seinen Leuten ausgeführt) und einer reinen Propaganda-Lüge wie jetzt von Putin. Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung im Kosovo hat (anders als jetzt in der Ukraine) die Intervention begrüßt. In Serbien selbst ist niemand einmarschiert. Wenn es nach der Gerechtigkeit gegangen wäre, hätte man damals (wenn man schon Grenzen verändert) die wenigen überwiegend serbisch bevölkerten Teile des Kosovo bei Serbien lassen sollen. Zulässig ist wohl, den Kosovo mit der Krim zu vergleichen, vielleicht auch noch mit der Anerkennung und militärischen Unterstützung der Separatisten in der Ost-Ukraine (sofern man diese als Vertreter der dortigen Bevölkerung betrachten kann und nicht nur als russische Geheimdienstler oder Mafiosi). Aber spätestens mit dem Überschreiten von Grenze bzw. Demarkationslinie zur Ukraine hat Putin hier jede Vergleichbarkeit überschritten.
    • Dass der zweite Irak-Krieg mangels UN-Mandat völkerrechtliches Unrecht war, und dass es im Vorfeld auf US-Seite erhebliche Propaganda-Lügen gab, sind wir uns wohl einig. Aber immerhin war hier der Machthaber des "überfallenen" Landes ein grausamer Diktator, nachweislich schuldig des Völkermordes mit Hilfe von Massenvernichtungswaffen (Kurden), des zweifachen Angriffskrieges (Iran und Kuwait) und des X-fachen Mordes gegen Bürger des eigenen Landes, und zweifellos für sein gesamtes Umfeld nach wie vor bedrohlich. Die aktuell überfallene Ukraine wird hingegen (im Moment noch) von einem demokratisch gewählten Präsidenten und einem demokratisch gewählten Parlament regiert, die (bzw. deren Vorgänger) zwar zweifellos Fehler begangen haben – Thema Sprachenstreit und andere – aber jedenfalls keine Verbrechen. Und die Ukraine hat niemanden bedroht.

    Es ist recht eindeutig festzustellen, dass Russland zu Europa gehört

    Selbstverständlich. Stellt hier glaube ich auch niemand in Frage. Und selbstverständlich hat jeder souveräne Staat das Recht, auf seinem eigenen Territorium Truppen zu stationieren wo immer er das will – es sei denn es gäbe Verträge, die darüber anderweitig bestimmen. Dass solche Stationierungen unter Umständen in benachbarten Staaten Angst auslösen können ist einerseits verständlich, andererseits rein (völker)rechtlich zunächst mal hinzunehmen. Das gilt aber für beide Seiten, also gleichermaßen beispielsweise für die Angst der Polen und Litauer vor russischen Truppen in Kaliningrad wie für die "Angst" der Russen vor ein paar hundert NATO-Soldaten im Baltikum. Ich erlaube mir dabei, (nur) Letztere aus Überzeugung in Anführungszeichen zu setzen.

    Üblicherweise besteht die Gefahr, dass eine Exklave im Fall der Fälle von der Umgebung geschluckt wird, nicht umgekehrt.

    Das hängt davon ab, wie viele Truppen in der Exklave stationiert sind. Im September 1939 ist die 3. Armee der deutschen Wehrmacht aus der Exklave Ostpreußen in Polen einmarschiert. Ich gehe davon aus, dass die Polen das nicht vergessen haben, auch wenn es sich dabei nur um eine von insgesamt fünf Invasions-Armeen gehandelt hat. Die anderen vier Armeen kamen damals aus Pommern und Schlesien, könnten aber heutzutage (wie schon seinerzeit ab 17.09.1939) auch aus der entgegengesetzten Richtung kommen. Ich erwähne das nur, um die (in Diskussionen wie dieser immer wieder als "Rechtfertigung" herangezogene) angebliche russische "Angst" vor Invasionen aus dem Westen zu relativieren.


    Ich muss aber zugeben, dass mir nach Wladimir Putins mehrstündiger Geschichtslektion vom Montag (die ganz anzuhören mir zugegeben die Kraft fehlte) die Lust abhanden gekommen ist, über geschichtliche "Rechtfertigungen" aktueller militärischer Gewaltakte zu diskutieren.

    Bayern erklärt sich als Freistaat unabhängig und macht damit vom Selbstbestimmungsrecht der Völker Gebrauch.

    Gute Idee, müsste man mal drüber nachdenken... ^^


    Aber im Ernst: Was mir in der ganzen Ukraine-Diskussion bislang tatsächlich zu kurz kommt, ist das von Gunnar zu Recht angesprochene Selbstbestimmungsrecht der Völker. Ich stimme Gunnar zu, dass wahrscheinlich auf der Krim und möglicherweise auch in den Ostgebieten der Ukraine die dortige Bevölkerung in einer demokratischen Abstimmung unter UN- oder OSZE-Kontrolle mehrheitlich für einen Anschluss (historisch belastetes Wort bewusst gewählt) an Russland gestimmt hätte. Möglich ist auch, dass eine solche demokratische Abstimmung anders ausgegangen wäre, und sei es nur, weil auch russisch-sprachige Ukrainer vielleicht ganz persönliche Vorteile in einer West-Anbindung ihres Landes (EU) gesehen hätten. Wir wissen es nicht. Dazwischen hätte es auch viele denkbare und demokratisch legitimierte Zwischenlösungen gegeben, z.B. einen "Südtirol"-Status bestimmter Gebiete mit speziellen Regelungen für Autonomie und Amtssprache. Nur leider hat die dortige Bevölkerung eine solche Chance zur Selbstbestimmung nie erhalten – nicht in der UdSSR, nicht unter wechselnden ukrainischen Regierungen, und auch jetzt nicht.


    Die (von vielen westlichen Stellen leider verbreitete) Auffassung, dass Grenzen in Europa (oder auf der ganzen Welt) nicht verändert werden dürfen, halte ich für Unsinn. Grenzen werden – seit es Geschichte gibt – andauernd verändert, und auch der "Westen" hat nach 1945 in Europa Grenzen verändert, sogar auch gewaltsam (Beispiel Kosovo). Das Schlimme daran ist nicht die Veränderung als solche, sondern wenn sie a) gewaltsam erfolgt und/oder b) ohne Zustimmung der betroffenen Bevölkerung. Was wir eigentlich bräuchten ist ein völkerrechtliches Instrument unter den Vereinten Nationen zur nichtmilitärischen Regelung ethnisch-territorialer Konflikte, basierend auf demokratischen und UN-kontrollierten Abstimmungen in umstrittenen Gebieten, deren Ergebnis dann für – sagen wir – die nächsten dreißig Jahre für alle Parteien verbindlich sein müsste.


    Man sollte dabei aber festhalten, dass zum Selbstbestimmungsrecht der Völker – neben der freien Entscheidung über Unabhängigkeit bzw. Staatszugehörigkeit – auch unter Anderem das Recht gehört, frei über Bündniszugehörigkeiten zu entscheiden. Wenn es hier um die Frage geht, wer die "Bösen" sind und wer die "Guten", so ist das Selbstbestimmungsrecht der Ukraine (sofern und soweit ausgeübt von einer demokratisch legitimierten Regierung) jedenfalls ein höheres Rechtsgut als geopolitische Ängste der russischen Machthaber. Solche Ängste (egal ob legitim, verständlich oder nur eine weitere Propagandalüge) können niemals eine Rechtfertigung dafür sein, die Bevölkerung eines anderen souveränen Staates zu unterjochen. Punkt.

    Das wichtigste für die Ukraine ist erstmal ein Waffenstillstand und kompromissbereite Köpfe als Verhandlungsführer, um den Karren wieder aus dem Dreck zu fahren. De-eskalation scheint mir zielführender zu sein, als eine Gewaltspirale über alle Dimensionen.

    Einverstanden. Schauen wir mal, ob Herr Putin das auch so sieht. Ich fürchte nur, mit weniger als "Warschauer Pakt 2.0" einschließlich der Institution einer ausschließlich russischen Interessen dienenden diktatorischen Marionetten-Regierung á la Weißrussland wird er sich – zumindest was die Ukraine betrifft – nicht zufrieden geben.

    Viessmann Vitotwin 300-W (1 kWel, 6 kWth) seit 2012

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    Einmal editiert, zuletzt von sailor773 ()

  • Was wir eigentlich bräuchten ist ein völkerrechtliches Instrument unter den Vereinten Nationen zur nichtmilitärischen Regelung ethnisch-territorialer Konflikte, basierend auf demokratischen und UN-kontrollierten Abstimmungen in umstrittenen Gebieten

    Das ist der Punkt, bei dem auch viele westliche Staaten schizophren sind und die Realität von der plakativen Moral abweicht. Selbstbestimmung ist für alle anderen eine Selbstverständlichkeit. Nur für die eigenen Volksgruppen kann man das nicht akzeptieren. Und weil es zu viele Staaten gibt, bei denen das zuhause ein Problem wäre, können sich die Staaten auch nicht auf einen Konsens dahingehend verständigen, wie eine Volksgruppe eigenständig werden kann.

    Bisher sind (fast) alle Veränderungen von Grenzen ein Resultat einer vorlaufenden gewalttätigen Auseinandersetzung.

    Das soll selbstverständlich nichts relativieren, was gerade in der Ukraine passiert, es soll nur in Erinnerung rufen, dass auch bei uns noch deutliche Defizite in punkto Demokratie bestehen.

    Lesen gefährdet die Dummheit! Denken gefährdet Vorurteile!
    Der geistige Horizont mancher Menschen hat einen Radius von NULL. Das nennen sie dann Standpunkt.

  • Moin Seemann,

    Wie das Beispiel Iran zeigt, kann man mit Sanktionen ein undemokratisches und aggressives Regime (auch – oder vielleicht gerade – in einem Land mit einer kaputten Wirtschaft) nicht wirklich in die Knie zwingen. Aber nichts machen ist halt auch keine Alternative. Die Beerdigung von Nordstream 2 wäre deshalb angesichts der symbolischen Bedeutung dieses Projektes (die m.E. weit über dessen wirtschaftliche Bedeutung hinausgeht) in einem solchen Fall wohl unumgänglich.

    Zu Sanktionen habe ich eine Karikatur beigefügt - die können ein zweischneidiges Schwert sein.


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    Das Einfrieren von Nord Stream 2 ist imho eine ganz konkrete Maßnahme, die Wichtigkeit der Transgas-Pipeline in den Vordergrund zu heben, die von Gazprom durch die Ukraine nach wie von bedient wird. Dazu empfehle ich, die Transparenzplatform der ENTSOG zu konsultieren. Wichtig sind die Entry-Punkte Greifswald (North Stream 1: 55 Gm3/a = 55*11/8760 GW = ca. 70 GW Kapaziät), Kondratki (Jamal-Europa Pipeline: 33 Gm3/a = ca. 40 GW Kapazität), und Uzhgorod (Übergabe an die Transgas-Trasse aus den Pipelines Sojus - Gasvorkommen Orenburg und Bruderschaft - Gasvorkommen Urengoi mit einer maximalen Kapazität von 120 Gm3/a = 150 GW). Die Gasreserven im südlichen Ural werden geringer und daher wird sich die Schwerpunkt der Förderung Richtung (Nord-)Westsibiren incl. der Jamal-Halbinsel (Jamal = Ende der Welt) verlegen. Das ist auch der Grund dafür, dass eine Erdgastrasse von Nord-Westsibirien über St. Petersburg durch die Ostsee nach Westeuropa kürzer und günstiger (siehe Abb. 1) ist. Die zusätzliche Eigenschaft, weniger Transitgebühren zu zahlen, kommt nach dazu, sowie die geopolitischen Aspekte, die auch eine Relevanz haben.


    Nun zu den graphischen Übersichten:

    Belarus -> Polen (Kondratki): Bis Ende Juli 2021 Import aus Jamal von kontinuierlich rund 1000 GWh/d (42 GW), danach unregelmäßiges auf und ab, ab 2022-01-01 den Januar lang nichts und ab Februar 100 GWh/d Importe, die ab dem 26. Februar 2022 wieder anstiegen.


    Ukraine -> Slovakai (Uzhgorod): Importe im letzten Jahr bis 1000 GWh/d, wobei bis Jan 2020 auch fluktuierende Mengen bis 2000 GWh/d zu beobachten waren. 860 GWh/d (36 GW) war ein üblicher Wert, dann ging es im Januar auf 300 GWh/d runter zeitweise rauf auf 700 GWh/d und ab dem 24. Feb. wieder rauf bis auf 850 GWh/d.

    Russland -> Deutschland (Greifswald): Zum Vergleich zeigt sich eine gleichmäßige Speisung der beiden Anschlussleistungen OPAL und NEL von insgesamt 1800 GWh/d (ca. 75 GW).


    Was heisst das?

    Vermutlich kostet ihn der jetzige Truppenaufmarsch schon mehr als Gazprom je für Nordstream 2 ausgegeben hat.

    Nordstream 1+2 hat je um 10 Mrd € gekostet, Power of Siberia ca 55 G€. Die Jahresausgaben in 2020 fürs russische Militär betrugen 62 Mrd USD. Zum Vergleich: China 252 G$, USA 778 G$. Deutschland und Frankreich kommen auf je 53 G$, Großbritannien gibt 58 G$ für die Streitkräfte aus.


    Und Gas werden wir einstweilen von Russland weiter beziehen müssen (wenn nicht über Nordstream 2, dann eben über die anderen Pipelines), außer Putin stellt die Versorgung ein oder die Ukrainer kappen die Pipeline. Beide Parteien halte ich für zu intelligent um das zu tun.

    Ich auch. Aber man weiss nie, was in der Hitze des Gefechts passieren wird. Die Alternative, über freie LNG-Importterminals Gas über den LNG-Welthandel zu beziehen, ist nicht wirklich gangbar. Zum einen Ist die LNG-Importkapazität der EU mit 5500 GWh/d (230 GW) begrenzt. Mehr als 80% Auslastung sind aufgrund der Hafenlogistik praktisch nicht zu erwarten und jahrelang war die Auslastung der Wiedervergasung auch nur unter 30% gelegen. Erst seit der Wintersaison 2019/20 geht es rauf und schwankt zwischen 30% - 60% (grüne Linie).



    Gruß,

    Gunnar


    Was wir eigentlich bräuchten ist ein völkerrechtliches Instrument unter den Vereinten Nationen zur nichtmilitärischen Regelung ethnisch-territorialer Konflikte, basierend auf demokratischen und UN-kontrollierten Abstimmungen in umstrittenen Gebieten. [..] Selbstbestimmung ist für alle anderen eine Selbstverständlichkeit. Nur für die eigenen Volksgruppen kann man das nicht akzeptieren. Und weil es zu viele Staaten gibt, bei denen das zuhause ein Problem wäre, können sich die Staaten auch nicht auf einen Konsens dahingehend verständigen, wie eine Volksgruppe eigenständig werden kann.

    Tja, da wird gern und oft mit zweierlei Maß gemessen. Zwei Gegenbeispiele, in denen die Auftrennung unblutig geklappt hat: der Gedankenstrich-Krieg in der Tscheslowakei und der Brexit (wobei es bei letzterem auch vielleicht daran liegt, das die EU keine eigenen Truppen hat, um die Briten von einer Sezession abzuhalten *g*).


    Gruß,

    Gunnar

  • 120 Gm3/a = 150 GW

    wenn ich mal annehme, dass das GWh sein sollen, dann fehlen mir aber bei der Umrechnung noch 3 Nullen, oder stehe ich mal wieder fest auf dem Schlauch?

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